Die Corona-Pandemie hat in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass Festivals ihre Abspielkonzepte überdenken mussten. Was vorher als undenkbar galt, wurde mit viel Engagement und unzähligen Überstunden plötzlich zur Selbstverständlichkeit: online und hybrid wurden zu Begriffen der Stunde. Doch mit der zunehmenden Verwertung von Kurzfilmen im Internet, entsteht derzeit auch ein neues Narrativ: „Watch amazing films during your coffee break!“ bewirbt die Streaming-Plattform Sofy den Kurzfilm und schon hat man Lust abzuschalten. In der epd-Film hieß es anlässlich des Kurzfilmfestivals in Clermont-Ferrand 2021, der Kurzfilm solle „sich öffnen, raus aus der Nische des Arthouse. Er soll sich als Alternative zu Serien etablieren, für die Pause, in der U-Bahn, immer dann, wenn für einen Langfilm keine Zeit ist.“
Die eigenständige und manchmal auch widerspenstige Kategorie des Kurzfilms soll am besten in Snackform aufbereitet und serviert werden, um Ablenkungs- und Zerstreuungsbedürfnissen in einer an Konzentrationsfähigkeit armen Welt entgegenzukommen. Ob das als gelungene Strategie bezeichnet werden kann, darf durchaus bezweifelt werden. Sicher ist, dass da, wo der Kurzfilm zum leicht verdaulichen Produkt wird, er seine Identität verliert. Denn der Kurzfilm ist kein kurzer Film. In ihm konserviert sich, was Kino von Beginn an gewesen ist: Entdeckung und Versuch. Er bringt die Entwicklung der Filmsprache zu Bewusstsein, ist Ausdruck stetigen Wandels und permanenter Abgleich mit den Zumutungen der Wirklichkeit.
Der Kurzfilm – und Kino im Allgemeinen - artikuliert, was das Wort nicht zu artikulieren vermag, denn wozu zeigen, wenn man sprechen oder schreiben kann. Film trägt in die Welt, was diese selbst nicht von sich denken kann oder will. Er bringt die Ordnung der Dinge ins Wanken, weil er über sie hinaus geht und zeigt, dass es neben dem Dasein noch etwas anderes gibt. Eine Welt der Möglichkeiten, der Absage an die Vereinnahmungen durch das Ökonomische, des Überschusses, der sinnlichen Verschwendung, der Schönheit, des Rausches. Film ist ästhetischer Einspruch.
Schon deshalb benötigen unübersichtliche Zeiten keine unterkomplexen Filme, die in der U-Bahn wegkonsumiert werden können, sondern Filme, die in der Lage sind die oftmals unverständlichen Vielschichtigkeiten zu reflektieren und mit künstlerischen Mitteln Haltung einnehmen. Filme, die an der abweisenden Oberfläche der Wirklichkeit Zugänge ins (Unter)Bewusstsein legen.
Und wie definieren wir uns? Als Festival reagieren wir in diesem Jahr sehr stark auf sich verändernde Bedingungen in und abseits der Film(festival)landschaft. Das Intendantenprinzip ist einer neu gegründeten Programmkommission gewichen, denn Geschichte – auch unsere eigene – lebt von Veränderung. Daneben öffnen wir die Kuration verstärkt für externe Perspektiven. Unser Ziel ist, interfilm als Raum für Begegnung und Ausgangspunkt für das Debattieren über das, was um uns herum jeden Tag geschieht, auch in Zukunft offen zu halten. Wachsam und lebhaft wollen wir Gesellschaft und Politik, das Leben und die Kunst befragen und begreifen. In diesem Sinne freuen wir uns auf eine spannende Festival-Woche des Austausches und des Entdeckens!
Das interfilm-Team
interfilm ist Berlins größtes und ältestes Kurzfilmfestival. Jedes Jahr im November füllen wir unterschiedlichste Spielorte in ganz Berlin mit einem diversen Programm zwischen politischem Anspruch und künstlerischer Experimentierfreude. Mehr als 400 Kurzfilme werden pro Festival ausgewählt und in den verschiedenen Sektionen kuratiert. Dotierte Wettbewerbe finden sich genauso wie obskure Spezialprogramme, regionale Schwerpunkte, Filmtalks, Workshops, Konzerte, Partys und Networkingtreffen sowie Industry-Veranstaltungen. Wir sind FFA- und OSCAR®-relevant. Zu interfilm als Festival gehört außerdem uns Schwesterfestival KUKI sowie ein Verleih, Vertrieb & Agentur. Wir setzen uns für den Kurzfilm als Medium in Schulen ein und promoten das kurze Format als spannenden Content für TV, Streaming und Kino. Mit unserem Vorfilmabo bringen wir außerdem das lange vergessene Prinzip des Vorfilms zurück in die deutschen Lichtspielhäuser.
Kollektive Festivalkuration 2021: interfilm führt Programmkommission ein. Tausende Kurzfilme werden uns jährlich von Filmschaffenden zur Sichtung und Kuratierung anvertraut, tausende Stimmen über den Zustand der Welt. Die Diversität der einreichenden Filmemacher*innen und ihrer Filme reflektiert interfilm nun auch in den Arbeitsprozessen unserer Kurator*innen. Wesentliche Sektionen wie Wettbewerbe werden nun, koordiniert durch die Festivalleitung, in Kurator*innenteams entschieden. Das Intendantenprinzip öffnet sich hin zu pluralistischer Offenheit. Die kuratorische Haltung des Festivals soll die perspektivische Offenheit dieses Ansatzes spiegeln und die neu gegründete Programmkommission sieht es als ihre Aufgabe an die gesellschaftlichen Diskurse unserer Zeit ästhetisch, formal und inhaltlich kuratorisch zu bearbeiten.
Kurzfilmfestivalkurator*innen sind Observator*innen an der Front der (Sur)Realität. Das Komplexe der Weltzusammenhänge ist das Objekt ihrer Beobachtung. Ihre Aufgabe ist es in wohl verpackten Programm-Portionen die Besucher*innen für die Ergebnisse ihrer Forschung zu sensibilisieren und in ihnen das Bedürfnis zu wecken, immer mehr aus der Welt, in der sie leben, erfahren zu wollen.
Komplexe Weltzusammenhänge und Vermittlungsstrategien durchdringen interfilm seit Jahren. Die eigenverantwortliche Arbeit in den Gewerken trifft nun in der Tradition flacher Hierarchie auf eine kollektive Konsensfindung. Im Internationalen Wettbewerb durch Heinz Hermanns, Andrea Schwemmer, Sarah Dombrink und Matthias Groll, im Dokumentarfilmwettbewerb durch Moritz Lehr und Ingrid Beerbaum, im Deutschen Wettbewerb durch Patrick Thülig, Nastassja Kreft und Cord Dueppe. Weitere Wettbewerbe, Sektionen und Spezialprogramme werden ebenfalls in Teams kuratiert. Dort, wo die Blicke unserer hauseigenen Kurator*innenteams an ihre Grenzen stoßen, öffnen wir die Kuration verstärkt für externe Perspektiven.
Das Festival existiert seit knapp 40 Jahren - hier das neue Festival-Archiv - und hat so einen nicht unerheblichen Teil der jüngeren Geschichte miterlebt, filmisch begleitet und reflektiert. Von den besetzten Häusern im Kreuzberg der 80er Jahre bis in den großen Saal der Volksbühne oder des Babylon hat interfilm eine bewegte und bewegende Geschichte und auf dieser wollen wir mit unserem Programm aufbauen. Unsere kuratorische Arbeit soll den Blick des Publikums für andere, neue und faszinierende Perspektiven öffnen: künstlerische, politische, soziale, kulturelle und technologische. Unser Festival soll ein Raum sein, um diese zu diskutieren, einander zu begegnen und sich auszutauschen.
Wir glauben fest an das gesellschaftliche Potential der Kunst im Allgemeinen und des Kurzfilms im Speziellen. Kaum ein anderes Medium reagiert so schnell und so konkret auf gesellschaftliche Entwicklungen und bietet dabei gleichzeitig so umfassende künstlerische Freiheiten. Der Kurzfilm ist in unseren Augen bestens geeignet dem Diskurs unserer Zeit Rechnung zu tragen und wir als Kurzfilmfestival wollen diesen Diskurs durch Kurzfilm erschließen und einem breiten Publikum zugänglich machen.
Denn: Wo man auch hinschaut, Idiotie, Despotie und Verfolgung finden sich in allen Schichten der Gesellschaft; Ungerechtigkeit und Marginalisierung erscheinen allgegenwärtig. Wir wollen unser Publikum mitnehmen, es sensibilisieren und ermuntern, Ungerechtigkeiten zu durchschauen und aktiv gegen diese anzugehen. Auch die Filmemacher*innen weltweit wollen wir darin bestärken, weiterhin die Augen offen zu halten und ihren Blick, ihre Kameras und ihre ganze künstlerische Kraft auf Geschichten zu richten, welche erzählt werden müssen, welche im gesellschaftlichen Diskurs zu leicht ignoriert werden und welche die Freiheit im Globalen bestärken.
When life gives you lemons, make lemonade!